Zen-Ästhetik
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Zen, die Wabi-Sabi-Ästhethik und das Haiku (Teil I)
von Jürgen Gad


Einleitung:
Das folgende Essay beinhaltet im ersten Kapitel eine allgemeine Darstellung der wabi-sabi-Ästhetik unter besonderer Berücksichtigung des Zen-Buddhismus, der sie entscheidend geprägt hat. Hierzu werden charakteristische Merkmale genannt, die die Ästhetik ausmachen und ihre Herleitung aus dem Zen bzw. der Zen-Philosophie erläutert. Im zweiten Kapitel wird kurz auf die Beziehung der wabi-sabi-Ästhetik zur westlichen Moderne eingegangen und geschildert, warum die wabi-sabi-Ästhetik in vielerlei Hinsicht eine Vorwegnahme der modernen westlichen Kunst darstellt, aber auch gezeigt, in welcher wesentlichen Hinsicht sich beide Konzepte unterscheiden. Aufbauend auf den geschilderten charakteristischen Merkmalen der wabi-sabi-Ästhetik wird im letzten Kapitel (noch nicht veröffentlicht) untersucht, in wie weit sich die haiku, des haiku-Gründers Basho aus seiner zenbuddhistisch beeinflussten Schaffensperiode, in die wabi-sabi-Ästhetik einfügen bzw. daraus herleiten lassen.


Die wabi-sabi-Ästhetik:

Am Anfang des 14 Jahrhunderts schrieb der buddhistische Mönch Yoshida Kenko folgende, heute berühmten, Zeilen:
„Würde man nicht hinschwinden wie der Tau auf dem Adashi-Feld und nicht flüchtig vergehen wie der Rauch auf dem Toribe-Berg, sondern ewig leben – wie könnte man da die zauberhafte Melancholie erfassen, die in allen Dingen webt ? Gerade ihre Unbeständigkeit macht die Welt so schön.“
Er lebte als Einsiedler in einer Hütte und nutzte seine Zeit zur Kontemplation. Seine Gedanken hinterließ er in Form von tagebuchartigen „Essays“, die posthum veröffentlicht wurden. Dieses Werk, das sogenannte Tsurezuregusa (deutsch: Aufzeichnungen aus Mußestunden, bzw. Betrachtungen aus der Stille), wurde zu einem Klassiker der japanischen Literatur und übte einen großen Einfluss auf die Klassische Japanische Ästhetik aus. Durch seine Lebensweise verwirklichte er das Ideal eines taoistischen Weisen, der, abgeschieden „von dem Lärm der Welt“, in stiller und glücklicher Kontemplation lebte. Sein literarisches Werk hat als ein Hauptthema die Vergänglichkeit aller Dinge der Welt, einschließlich des eigenen Selbst.
Als Buddhist stemmt er sich aber nicht gegen das Werden und Vergehen, sondern nimmt die Vergänglichkeit aller Dinge als unvermeidlich hin und entwickelt gerade hierdurch eine Ästhetik, die die Vergänglichkeit selbst in den Mittelpunkt stellt und als das eigentlich Schöne der Kunst bezeichnet. So schreibt er: „ Bewundert man die Kirschblüten nur in ihrer vollen Pracht, den Mond nur an einem wolkenlosen Himmel? Sich im Regen nach dem Mond sehnen, hinter dem Bambusvorhang sitzen, ohne zu wissen wie sehr es schon Frühling geworden ist – auch das ist schön und berührt uns tief. Gerade ein Zweig, dessen Knospen erst aufgehen, und ein Garten, in dem die Blüten schon abgefallen sind, gibt besonders viel zu betrachten.“ sowie:
„ … So ist es bei tausend Dingen: Gerade der Anfang und das Ende haben einen besonderen Zauber.“ Die Hervorhebung des Vergänglichen ist ein Charakteristikum der Klassischen Japanischen Ästhetik, bzw. der Zen-Ästhetik.
Sie äußert sich praktisch dadurch, dass die Blüte nicht in ihrer vollen Pracht wertgeschätzt wird, sondern dass, im Gegenteil, das Prozesshafte, also etwa die Knospe oder die bereits verwelkte und abgefallene Blüte hervorgehoben wird. Für die von Y. Kenko oben beschriebene ästhetische Auffassung gibt es einen speziellen Ausdruck, der allerdings kaum direkt übersetzt werden kann: mono no aware und meint das angesichts der unumgänglichen Vergänglichkeit der Welt im Betrachter aufsteigende, leicht melancholisch gefärbte, Gefühl für Wahrheit, das mit dem Gefühl von Schönheit einher geht.
Die Ästhetik des wabi-sabi, die sich im japanischen Mittelalter schrittweise entwickelte, geht aber noch einen Schritt weiter.
Bei Y. Kenko ist im eingangs wiedergegebenen Zitat noch von einer Melancholie angesichts der Vergänglichkeit aller Dinge die Rede. In der wabi-sabi-Ästhetik verschwindet diese negative Konnotation und weicht zur Gänze einer positiven Sichtweise und sieht in der Vergänglichkeit den eigentlichen Grund für die Möglichkeit von Veränderung bei den Dingen. Denn hätten die Dinge der Welt einen unveränderlichen Wesenskern (philosophisch gesehen eine Substanz), so könnten sie sich nicht ändern, da sie sonst ihre Selbstidentität verlieren würden. Die Welt wäre daher statisch, was aber der Beobachtung widerspricht. Daher ist es das zentrale Anliegen der wabi-sabi-Ästhetik, die Veränderlichkeit der Dinge, einschließlich des eigenen Selbst, als grundlegende Eigenschaft allen Seins darzustellen.
Im Laufe des japanischen Mittelalters wurde in Japan der Zen-Buddhismus populär und seine philosophischen Einsichten befruchteten die wabi-sabi-Ästhetik entscheidend. In dieser Ästhetik gibt es nirgendwo eine Statik, Statik wird lediglich als Anhaftung bzw. Illusion des dualistisch unterscheidenden Geistes angesehen, die es mit Hilfe von Selbsterkenntnis zu überwinden gilt.
Ursprünglich bezog sich sabi auf Einsamkeit, Verlassenheit und öde Orte. Aber bereits im Heike monogatari, der epischen Erzählung des Kampfes des Heike(Taira)-Clans mit dem Minamoto-Clan (während der Heian-Zeit), hatte es eine positive Konnotation. Die neue Bedeutung war, dass an abgelegenen Orten, als weiser Eremit in geistiger Freiheit, zu leben, bedeutete, den unumgänglichen Wandel allen Seins (einschließlich des eigenen selbst) zu akzeptieren, d. h., alt und „rostig“ werden als Chance zu sehen, über den Lauf der Dinge zu kontemplieren und mit ihnen eins zu werden, statt sich dagegen stemmen zu wollen. Die Lehre, die aus dem Kampf der verfeindeten Clans gewonnen wurde, ist, nebenbei gesagt, auch heute noch so aktuell wie damals, Aufstieg und Größe sind nur die Vorstadien von Niedergang und Zerfall, denn alles was eine Form hat, ist, nach der buddhistischen Lehre, dem Werden und Vergehen unterworfen.
Sabi wird meist im Zusammenhang mit wabi als wabi-sabi genannt, da sich die beiden Begriffe schlecht voneinander trennen lassen, weil sie sich z. T. in ihrer Bedeutung überschneiden. Wabi ist das Hauptwort vom Verb wabiru, welches verschiedene Bedeutungen haben kann. Im ästhetischen Zusammenhang meint es ursprünglich etwa: Mangel, Verlorensein, Verlust, Kummer oder Harm, man erkennt die Ähnlichkeit zum Begriff sabi. Auch hier fand eine Umdeutung der ursprünglichen Konnotation statt. Mit diesem Mangel ist nun aber kein Mangel im üblichen Sinn, also etwa das Fehlen von etwas gemeint, sondern die Nichtbeachtung, bzw. Geringschätzung des Materiellen bzw. Prachtvollen, einhergehend mit der Freiheit, die daraus erwächst, dass keine Anhaftung an materielle und daher vergängliche Dinge erfolgt. Wabi war schon vor der speziellen wabi-Ästhetik in fünfzeiligen Gedichten (waka) gebräuchlich.
Vom großen Teemeister und Vollender der wabi-Teezeremonie (wabi-cha) Sen no Rikyu werden die beiden folgenden waka angeführt, um wabi zu charakterisieren:

Wie weit man auch blickt
weder Blüten noch leuchtend verfärbtes Ahornlaub.
Am Ufer
nur eine riedgedeckte Hütte
in der herbstlichen Abenddämmerung.

Denen, die nur Kirschblüten
sehnsüchtig erwarten,
wie gern würd` ich ihnen zeigen
mitten im Schnee das sprossende Grün
im Bergdorf zur Frühlingszeit.

Die beiden waka zeigen deutlich, dass das Auffällige, sofort ins Auge springende, weniger geschätzt wird als das verborgene und im Werden begriffene, also das Dynamische.
Der Ursprung der Statik in der Ästhetik, bzw. ihre Vermeidung, liegt nach der zenbuddhistischen Philosophie in der illusionären Wirklichkeitssicht des reduktionistisch, dualistischen Denkens begründet. In dem Moment in dem das dualistisch unterscheidende Denken einsetzt, wird automatisch, ohne dass wir es verhindern können, zwischen ich und nicht ich unterschieden. Durch diesen Denkvorgang wird mithilfe der Sprache die Welt, in die Welt der Dinge, aufgeteilt.
Dabei werden die Begriffe und Definitionen mit deren Hilfe wir die Dinge benennen, für wahr genommen und gegeneinander abgegrenzt. Diese Sichtweise, die auch als die gewöhnliche Wirklichkeitssicht bezeichnet wird, hält der Zen-Buddhismus für eine Illusion des Geistes, die vom Denken selbst hervorrufen wird. Zen sagt hingegen, dass die Begriffe und Definitionen aber nicht das eigentlich Wirkliche sind, sondern nur Fingerzeige auf die Welt, wie ein Finger der auf den Mond zeigt, sie sind aber nicht der Mond !
Eine reale Erkenntnis der Wirklichkeit wird mithilfe des dualistischen Denkens sogar verhindert und schafft mithilfe der Begriffe, die zum Denken benötigt werden, Statik und daher Anhaftung. Die Statik ist aber nur im Denken vorhanden, die Wirklichkeit selbst ist völlig dynamisch. Nach der Philosophie des Zen ist die Wirklichkeit hingegen ein unteilbares, und daher holistisch, Ganzes, das sich in jedem Moment erneuert. Anders ausgedrückt: Das Teil (Ding bzw. Mensch) existiert nur in Relation zum Ganzen (Welt), da das Teil nicht ohne das Ganze existieren kann und umgekehrt. Unterteilt man die Welt mithilfe von Denken, in die Welt der Dinge, dann hat man eine Illusion geschaffen.
Vielleicht hat der Leser bemerkt, dass hier ein logisches Problem existiert. Da mithilfe der Zen-Philosophie und daher mithilfe von Denken und Sprache diese Aussage getroffen wurde, müsste diese Aussage ebenfalls eine Illusion sein.
Zen sagt daher ganz klar, dass mithilfe der Zen-Philosophie die Wirklichkeit nicht sagbar ist. Um dieses logische Problem zu umgehen, werden die Aussagen im Zen oft paradox formuliert oder man unterlässt eine verbale Aussage ganz und beantwortet die gestellte Frage nach dem Sinn des Zen nur mithilfe von Gesten. In diesem speziellen Fall z. B.: „Das Zen, das sich sagen lässt, ist nicht das Zen.“
Wird sie dennoch positiv formuliert, handelt es sich nicht um eine unmittelbare Erfahrung von Zen, sondern um Philosophie über Zen. Philosophie über Zen darf daher niemals mit Zen verwechselt werden. Um die Erfahrung von Zen verbal wiedergeben zu können, bedient sich die Zen-Philosophie einer speziellen Logik, der Logik der Relation, die dem „normalen“ reduktionistisch, dualistischen Denken zuwider läuft. Diese Logik ist durchaus stringent, wird aber, da meist völlig ungewohnt und daher missverständlich, meist nicht erkannt und daher nicht verstanden. Die „normalen“ dualistischen Begriffe haben dabei keine Selbstidentität (Wesen, Substanz), sondern existieren ausschließlich nur in Form von Relationen, die sich gegenseitig bedingen, also z. B. warm und kalt oder schwer und leicht. Aus dem eben gesagten, ergibt sich natürlich sofort die Frage, wie denn nun Zen seine Erkenntnis über die Wirklichkeit gewinnt?
Zen entstand ursprünglich in China und kam mit Beginn des Mittelalters nach Japan. Während das chinesische Zen (Ch´an Buddhismus) aus einer Symbiose des ursprünglichen indischen Buddhismus und dem einheimischen Taoismus entstand, verband sich das chinesische Ch´an in Japan mit der einheimischen animistischen Naturreligion der Japaner, dem Shintoismus. Der Shinto zeichnet sich durch eine große Liebe zur Natur aus und verehrt Natur- „Dinge“, wie z. B. Bäume oder Felsen, als Wohnstätte der Götter (kami), die daher heilig sind. U. a. aus diesem Grund ist die japanische Zen-Ästhetik zu einem großen Teil eine Naturästhetik. Ch`an bzw. Zen bedeutet einfach Meditationsbuddhismus. Während der ursprüngliche indische Buddhismus sehr theoretisch-philosophisch ausgerichtet ist, steht Zen der Theorie eher skeptisch gegenüber, da hier ja nur Illusionen des Denkens zu erwarten sind. Die Einsicht in die Wirklichkeit, einschließlich des eigenen Selbst, ist hingegen ein Vorgang, bei dem mit Hilfe der Meditation unmittelbar die Wirklichkeit geschaut bzw. erkannt wird, in dem jegliches Denken unterbunden ist. Durch das bewusste Abschneiden des „Gedankenstroms“, öffnet sich das Bewusstsein für das, was im momentanen Zustand tatsächlich erlebt wird, also z. B. das Zwitschern der Vögel im Geäst oder der Duft einer Wiese. Indem das Wahrgenommene bewusst erlebt, aber nicht mithilfe von Denken interpretiert und daher kontaminiert wird, erlebt der Schauende sich selbst, jeweils in Abhängigkeit vom momentan Erlebten. Die Aufteilung der Wirklichkeit mithilfe des Denkvorgangs, in ich und Nicht-ich, bzw. in die Welt der Dinge, findet daher nicht statt. Die Wirklichkeit ist nun ein holistisch Ganzes und nicht eine geistige Interpretation der Welt mithilfe der Sprache. Der Meditierende erlebt sich von Moment zu Moment immer wieder neu. Die Statik, die das Denken hervorruft, ist überwunden und weicht einer vollkommenen Dynamik, die auch als solche erlebt wird. Zen bezeichnet diesen Bewusstseinszustand als „wunderbares Sein“. Es ist ein Zustand, in dem das eigene Selbst, sich in jedem gerade erlebten Prozess gewahrt, der, da völlig dynamisch, von Moment zu Moment voranschreitet und sich dabei jedes Mal erneuert. Da „wunderbares Sein“ kein Ergebnis des unterscheidenden Denkens ist (Philosophie), sondern ein bewusstes Erleben der Wirklichkeit, gerade durch das Ausschalten des Denkprozesses, kann das Erlebte auch nicht wirklich mit Hilfe von Worten wieder gegeben werden, sondern nur von jedem einzelnen Menschen selbst erlebt werden. Die Wahrheit des Zen ist daher keine Philosophie im üblichen Sinn, also ein Ergebnis von bloßem Denken, sondern eine Selbstbezeugung, also eine Selbsterkenntnis und gleichzeitig ein Erkennen der nichtdualen Wirklichkeit, jenseits der Worte und des Denkens.
Aus diesem Grund wird in der Zen-Ästhetik das sprachliche Benennen, bzw. Erklären, des höchsten ästhetischen Ideals („wunderbares Sein“) als Beschmutzung aufgefasst! Das bedeutet aber gleichzeitig auch, dass das höchste ästhetische Ideal dem Wahren entspricht, da es nicht durch Denken kontaminiert ist. Hinzu kommt, da im Zustand von „wunderbarem Sein“ das ich transzendiert ist, dass es noch das Gute umfasst. Das höchste ästhetische Ideal des Zen ist also das Wahre, Gute und Schöne, das im Gegensatz zu seinem Pendant in der westlichen idealistischen Ästhetik nichts Normatives ist und daher nicht dem ästhetischen Diskurs anheimfallen kann. Dementsprechend sieht sich die Zen-Ästhetik auch als kunstlose Kunst, die weder vom Zeitgeschmack, noch von einer philosophischen Diskussion beeinflusst werden kann.
Zen wird in Japan durch ein Meister-Schüler-Verhältnis vermittelt. Der Zenmeister ist ein Mensch, der die Erkenntnis des Zen selbst erfahren hat und dadurch aus der illusionären Wirklichkeitssicht des gewohnten dualistisch-reduktionistischen Denkens erwacht ist und bezeugt das Zen durch seine eigene Erfahrung. Jeder Zenmeister ist berechtigt ein eigenes Kloster zu leiten und die Zenschüler auszubilden. Mithilfe von verschiedenen „Kunstkniffen“ versucht der Meister dem Schüler die gewohnte reduktionistisch-dualistische Denkweise auszutreiben, um das Bewusstsein des Schülers für die nonduale Wirklichkeit des Zen zu öffnen. Neben der bereits erwähnten Meditation, befleißigt sich eine spezielle Schule des Zen, die Rinzai-Schule, zusätzlich der koan-Methode.
Koan sind Fragen, die der Zenmeister seinen Schülern stellt, durch die sie, mithilfe der Meditation, geistige Klarheit über die nonduale Wirklichkeit gewinnen sollen. Notwendigerweise sind diese Fragen durchweg paradox formuliert, daher können die Schüler die gestellten Fragen, nicht wie üblich, mit Hilfe von Denken beantworten. Von diesen koan gibt es zahlreich historisch überlieferte, die seine Vorgänger formuliert haben, der jeweilige Meister kann sie aber auch aufgrund seiner Erfahrung selbst neu formulieren. Als Beispiel sei ein historisch berühmtes koan genannt:
Wie heißt der wahre Mensch ohne Rang und Namen?

Da diese Frage nicht mithilfe von Denken zu lösen ist, zwingt sie den Schüler das Nach-Denken über dieses koan fallen zu lassen und sein Bewusstsein der nondualen Wirklichkeit zu öffnen, wodurch, wenn die Umstände günstig sind, die Wahrheit des Zen erfahren werden kann und dadurch die Frage beantwortbar wird. Die „Beantwortung“ dieser Fragen ist mit großen Glücksgefühlen gekoppelt, daher nennt das Zen diesen Bewusstseinszustand „wunderbares Sein“. Ist „wunderbares Sein“ gegenwärtig, ist der entsprechende Mensch auch fähig echte Zenkunstwerke, also Zen-Ästhetik, im originären Sinn zu schaffen. Bleibt die Erkenntnis hingegen nur eine philosophische, also eine Erkenntnis des Denkens, ist dies hingegen nicht der Fall. Warum das so ist, wird im Text am Beispiel der Tuschmalerei erklärt. Um das Gesagte nochmals mit anderen Worten zu verdeutlichen, kann gesagt werden, dass es tatsächlich nichts „einfacheres“ gibt als Zen im Bewusstseinszustand von „wunderbarem Sein“, wird die lebendige Erfahrung hingegen in Worte gefasst, wie in diesem Essay, dann erscheint Zen höchst kompliziert, ja, nahezu unverständlich, denn Worte sind, wie Zen sagt, nur Schatten der Wirklichkeit. Glaubt man den Worten und den Begriffen, versperrt man sich gerade dadurch den Zugang zur nondualen Wirklichkeit, die sich einzig durch Erfahrung, jenseits der Worte öffnet. Dabei spielt es auch keine Rolle, ob die Worte und Begriffe der dualistisch-reduktionistischen oder der relationalen Logik entstammen. Worte können die Erfahrung von „wunderbarem Sein“ niemals wirklich vermitteln und das authentische, lebenswirkliche Zen wird zur Philosophie über Zen. Zen sagt, dass die Worte lediglich ein Floß sind, mit dessen Hilfe der Übende das andere Ufer erreicht, ist das andere Ufer erreicht, können die Worte zurück gelassen werden.
Wie kann aber das Erlebnis von „wunderbarem Sein“ kommuniziert werden? Da die Kunst andere Möglichkeiten hat als die Sprache, kommen wir nun wieder auf die Zen-Ästhetik zurück. Im Bewusstseinszustand von „wunderbarem Sein“ gibt es nur Dynamik und daher wird mithilfe der Zen-Kunstwerke auf diese Dynamik verwiesen und damit auf das Prozesshafte der Wirklichkeit aufmerksam gemacht. Die nonduale Wirklichkeitssicht wird im Zen mithilfe der koan kommuniziert, in der vom Zen abgeleiteten wabi-sabi-Ästhetik bedient man sich des Mittels, dass die Kunstwerke die Logik der dualistischen Gegensätze in Frage stellen oder sie sogar ohne weiteren Kommentar nebeneinander stellen, wobei sich aus dem Kontext ergibt, dass sich im Zen-Kunstwerk diese Gegensätze aufheben. Das Bestreben der Zen-Kunst ist, die Gegensätze zu vereinigen. Diese Vereinigung geschieht durch die ausschließlich relationale Betrachtungsweise, die dem Zen zu eigen ist. Im No-Theater wird z. B. in der Bewegung Ruhe gestaltet und mithilfe von Musik das Gegenteil vermittelt - Stille.

Aus dem gesagten wird klar, dass es keinen Sinn macht, die Zen-Kunstwerke mithilfe von Sprache zu analysieren, tut man es dennoch, wird die Kunst beschmutzt. Ein Erkennen dieser Kunst kann daher nur ein intuitiver Prozess sein, in dem sich der Künstler mithilfe seiner Kunst mit dem Rezipienten in Verbindung setzt und beide zusammen in einer Art Symbiose das im Kunstwerk gemeinte imaginieren. Dieser Vorgang wird besonders in der Teezeremonie gepflegt. Zunächst muss bemerkt werden, dass die Teezeremonie überwiegend im völligen Schweigen begangen wird, da die Worte nur die Konzentration und damit die Achtsamkeit stören. Wenn gesprochen wird, bedient man sich unverfänglicher Themen, wie z. B. der Natur zur gerade herrschende Jahreszeit oder der Qualität der im Teeraum verwendeten Teeutensilien und der Kunstwerke in der Ehrennische (tokonoma). Darüber hinaus wird die Kargheit oder Schlichtheit, die die wabi-Teezeremonie charakterisiert, bewusst eingesetzt, um zwischen Gastgeber und Gästen eine gemeinsame Harmonie herzustellen. Durch die Auswahl und das Arrangement des Blumengestecks und der verwendeten Bildrolle in der tokonoma, drückt der Gastgeber eine Vorstellung einer einmaligen Gegebenheit im Leben aus. Mit Hilfe der „Leere“ (mu, siehe auch weiter unten, unter mu-shin) als ästhetisches Konzept, wird diese Vorstellung aber nur in angedeuteter Form den Gästen präsentiert, so dass bei den Gästen Denk- bzw. Assoziationsräume geöffnet werden. So kann z. B. eine mit Wasser gefüllte Schale auf der einige Kirschblütenblätter schwimmen, die Assoziation von Frühling, bzw. die Assoziation von Vergänglichkeit wachrufen. Da nun Gastgeber und Gäste ihrerseits ihre persönlichen Assoziationen wiederum auch nur verbal andeuten, kommt es zu einem gefühlten Gleichklang während der Teezeremonie. Würde hingegen nach westlichem Muster versucht die Emotionen und Gefühle mit Hilfe von Worten „festzunageln“, käme es unweigerlich zu Differenzen in der Meinung. Dieser Prozess, die vorgegebenen Zeichen gemeinsam wahrzunehmen und den fehlenden Freiraum zu ergänzen, bzw. zu imaginieren, wird im japanischen mitate genannt. Durch den bewusst gestalteten Freiraum, der sich im Teeraum quasi in jedem Utensil wiederfindet und die dadurch bedingte Kargheit der Gerätschaften und der Teehütte, wird der Geist in Bewegung gesetzt. Ist der Geist dabei „leer“, d. h. ohne vorgegebene Theorie (ohne Anhaftung, also offen), erfüllt sich im Hier und Jetzt das Werden in gegenseitiger Abhängigkeit, also Zen.
Ein weiteres Charakteristikum der wabi-sabi-Ästhetik ist, dass das Prozesshafte in der Herstellung des Kunstwerks offen zutage tritt. In einem Tuschgemälde (sumi-e) gibt es, im Gegensatz zur Ölmalerei, keine Korrekturmöglichkeiten. Jeder Pinselstrich ist daher eine Spiegelung der Persönlichkeit des Malers und zeigt unmittelbar die geistige Verfassung, während er das Gemälde geschaffen hat. Er muss, um z. B. ein Gemälde eines Bambus herstellen zu können, den Bambus viele Jahre studiert und vor dem Malvorgang, um ihn ohne Korrektur ausführen zu können, in seinem Bewusstsein geistig prävisualisiert haben. Der eigentliche Malvorgang, der in wenigen Minuten beendet ist, ist dann „nur noch“ die technisch perfekte Umsetzung der geistigen Übung. Im Moment des Malvorgangs ist das Bewusstsein des Malers eins mit dem Bambus, die Herstellung des Bambusgemäldes selbst, ist dann Meditation in der Bewegung. Der vom Denken unbefleckte und daher „reine“ Geist des Malers wird mithilfe des Körpers in Malbewegung umgesetzt. Der Bewusstseinszustand des Malers während des Malvorgangs wird mu-shin genannt, was wörtlich übersetzt heißt, Nicht-Geist bzw. „leerer“ Geist. Damit ist gemeint, dass das Bewusstsein selbst, absolut, ohne unnütze Gedanken, im Malvorgang aufgeht. Der Maler erschafft das Bambusgemälde, wie der Meditierende, der mit „leerem Geist“ im Prozess der Atmung verweilt, bzw. in ihr aufgeht. Damit ist die Trennung zwischen dem ich, als ich-Bewusstsein und dem zu malenden Gegenstand, bzw. dem Meditationsobjekt Atmung, aufgehoben. Da in diesem Geistes-Zustand die beiden dualistischen Gegensätze zwischen ich und Nicht-ich verschwunden sind, wirkt im Moment des Malprozesses „wunderbares Sein“, der Schaffensprozess geschieht mit dem offenen und weiten Geist des mu-shins. Die Subjekt-Objekt Spaltung, die sonst unweigerlich durch das Denken hervorgerufen würde, ist aufgehoben, und die Tätigkeit wird durch die Vermittlung von mu-shin unmittelbar. Erhebt sich aber während des Malvorgangs nur ein einziger Gedanke der ablenkt, ist es vorbei, der Tuschestrich wird unterbrochen und ein Fehler wird sichtbar.

Mu-shin ist daher die Grundlage aller Zen-Kunst bzw. der Zenkunstwerke!

In der Wirklichkeitssicht des Zen ist die Welt ein unteilbares, holistisch Ganzes, in dem nichts voneinander getrennt existiert. Einer der Gründe für diese Weltsicht ist die schweigende Erkenntnis, die in der Meditation gewahr werden kann. Sie ist deswegen schweigend, weil in der Meditation unmittelbar erlebt wird, dass z. B., wenn der Atem der Meditationsgegenstand (Objekt) ist, der Geist (Subjekt) sich in Abhängigkeit vom Körper (Atmung) in jedem einzelnen Moment erneuert, oder anders gesagt, dass eine Trennung in ich und Nicht-ich eine Illusion des Denkens ist, die erst dann eintritt, wenn nach der Meditation das Erlebte in Worte gefasst wird und das nun wieder vorhandene Subjekt sich den Zwängen der Sprache unterwirft. Im Moment der Meditation (im Zustand von mu-shin) ist hingegen nur Atmung, d. h. Prozess, und sonst nichts! Wenn man das Erlebte verallgemeinert und auf das Teil (Ding, Mensch) und das Ganze (Welt) bezieht, ergibt sich daraus die Wirklichkeitsvorstellung des Zen, dass die Welt und die Dinge (bzw. Menschen) ein unteilbares und prozesshaftes Ganzes sind. Trennt man dieses unteilbare Ganze mithilfe von Denken in Subjekt und Objekt, dann existiert dieses Gedachte nur als Illusion des reduktionistisch-dualistischen Denkens. Wenn der Zen-Künstler ein Gemälde eines Bambus erschafft, erschafft er daher eine neue Welt, die vorher so nicht existent war, denn das holistisch Ganze ist „nur“ ein Prozess, kein was (Ding, Objekt), sondern ein wie (Prozess). Damit ist sein Kunstwerk Teil des holistisch Ganzen, ja, es ist das Ganze, und steht somit nicht der Welt als Abbild eines statischen Dings gegenüber, sondern ist, durch die unaufhebbare Verschränkung des Teils mit dem Ganzen, das holistisch Ganze dieser Welt - einer vollkommen dynamischen, unteilbaren und sich in jedem Moment wandelnden Welt.
Man kann das oben gesagte auch mithilfe eines Zen-Koan anders formulieren: Ein berühmter Zen-Meister wird von einem Schüler gefragt: Was ist das Zen? Die Antwort: Der Eichbaum da im Garten.
Oder: Um es poetisch mithilfe eines haiku von M. Basho zu umschreiben.

Wenn man ein Ding sagt
werden die Lippen kalt-
Herbstwind


Ein weiteres Charakteristikum der wabi-sabi-Ästhetik ist die Einfacheit bzw. die Kargheit der Kunstwerke. In dem auf alles Überflüssige verzichtet und z. B. im Tuschgemälde ein Porträt auf ganz wenige, aber essenzielle, Pinselstriche reduziert wird, schafft der wabi-sabi-Künstler einen Leerraum, den der Rezipient fast schon zwanghaft vollendet, um die unvollständige Gestalt zu schließen. Wäre das Gemälde aber in einem realistischen Stil gemalt, indem alle Details genau ausgeführt sind, träte beim Rezipienten Statik ein, die aber gemäß der Zen-Philosophie gerade verhindert werden soll.
Neben der Hervorhebung des Ephemeren und Prozesshaften, sowie der Sparsamkeit der eingesetzten Mittel, ist die Formlosigkeit bzw. Asymmetrie der Kunstwerke charakteristisch. Die Zen-Ästhetik ist besonders in der Tee-Zeremonie im sogenannten wabi-Stil verwirklicht. Die Teeschale (chawan) in der der Pulvertee mithilfe des Teebesens zu einem „Teebrei“ aufgeschlagen wird, erfreut sich hierbei einer großen künstlerischen Wertschätzung, die sich z. B. darin findet, dass die einzelnen Teeschalen mit Namen belegt sind. Diese Teeschalen sind oft unregelmäßig geformt und haben Sprünge oder sogar Risse. Die Teeschalen der wabi-sabi Ästhetik machen einen sehr rustikalen und ursprünglichen Eindruck und wurden daher, zumindest anfangs, bei der Rezeption dieser Kunstwerke durch Europäer und Nordamerikaner als primitive Kunst missverstanden. Sie stellen damit genau das Gegenteil der formvollendeten und eleganten Teeschalen im chinesischen Stil dar, die vor der Entwicklung der wabi-Teezeremonie in Gebrauch waren. Falls sie durch den Gebrauch Abnutzungsspuren erhalten oder sogar Sprünge entstehen, wird dies nicht als Mangel empfunden, sondern es adelt diese Gebrauchsgegenstände sogar. Nach der wabi-sabi-Ästhetik zeigt eine Patina, die durch häufigen Gebrauch entsteht, dass diese Gegenstände gerne in die Hand genommen und daher wertgeschätzt werden. Diese Wertschätzung ist deshalb nicht nur theoretisch-ästhetischer, sondern ebenso praktischer Art. Die Verbindung von Praxis und Theorie entspricht aber wiederum der nondualistischen Wirklichkeitssicht des Zen.
Allgemein gesehen drückt die Asymmetrie bzw. Unregelmäßigkeit Dynamik aus, denn eine vollkommen symmetrische Form, kann sich nicht weiter entwickeln und ist daher statisch.
In den Teeschalen und anderen für die Teezeremonie benutzten Keramiken ist noch ein weiteres Charakteristikum der wabi-sabi-Ästhetik zu erkennen, die Hervorhebung der Materialität. Manche dieser Teeschalen sind sogar ohne Glasur und machen geradezu einen gesteinshaften Eindruck, z. B. die Keramiken von Shigaraki. Andere Kunstwerke haben zwar eine Glasur, diese ist aber unregelmäßig bzw. unvollständig, z. T. in Verlaufsform aufgebracht. Diese Merkmale verschleiern weder das Material aus dem die Keramik geformt wurde, noch den Werdegang der Herstellung, sondern im Gegenteil, verweisen auf sich selbst. Vielleicht ist dem Leser aufgefallen, dass ich die Teeschalen als Kunstwerke bezeichnet habe. In der Zen-Ästhetik gibt es keine Trennung zwischen Kunsthandwerk und Kunst, wie im Westen, die Gründe hierfür müssen wohl, nach dem bereits gesagten, nicht eigens erwähnt werden.
Nicht die Herstellung der perfekten Form steht im Mittelpunkt, in der das Material untergeht, bzw. von der Form „vergewaltigt“ wird, sondern die Darstellung des Prozesshaften, also der Dynamik, die selbst Zen ist.
Das eben gesagte kann auch wiederum mit Hilfe eines Zen-koan ausdrückt werden: Wenn du den Buddha triffst, dann töte ihn.
Durch den gesteinshaften Charakter, die Asymmetrie und den unregelmäßigen, bzw. unvollständigen, Verlauf der Glasur, der darüber hinaus im Brennvorgang nicht genau gesteuert werden kann, machen diese Kunstwerke einen sehr naturhaften Eindruck auf den Betrachter, ja, sie sind sogar Natur, wenn man das Material bedenkt, gleichzeitig sind sie aber, wie der Name es nahelegt, vom Menschen geschaffene Gegenstände und daher künstlich.

Nun lieber Leser, was ist nun eine solche Teeschale - Natur oder Kunst?

Noch ein letztes Kriterium der wabi-sabi-Ästhetik soll genannt werden: Kire - bedeutet abtrennen bzw. abschneiden. Es handelt sich hierbei um ein fundamentales Prinzip, sowohl in den Künsten als auch im Buddhismus. Im Buddhismus werden die Begierden abgeschnitten, in dem das substanzielle Ich als Illusion erkannt wird, der Geist wird hierdurch von Anhaftung befreit. In den Künsten wird die Natürlichkeit in der Wiedergabe der Natur bewusst abgeschnitten, erst durch diesen Vorgang kommt es zur Gestaltung und das Dargestellte ist keine bloße Imitation der Natur, in Form von Realismus. Wird z. B. in einem Gemälde ein blühender Kirschbaum dargestellt, so verweisen knorrige, alte Äste auf den Tod, der immer im Leben immanent vorhanden ist. Der berühmte Trockengarten Ryoanji ist von einer Naturlandschaft umgeben, die aber bewusst durch eine Mauer abgetrennt ist. Der Trockengarten beinhaltet bereits den Hinweis auf den Tod, er ist also ein „Kunstschönes“, das durch kire einerseits besonders betont wird und andererseits auf das „Naturschöne“ außerhalb der Mauer, nach dem Prinzip der geborgten Landschaft, verweist. Kunstschönes und Naturschönes sind somit keine Gegensätze, sondern relational aufeinander bezogen. Durch die Verwendung von schwarzer Tusche in den sumi-e Gemälden wird alles Überflüssige abgeschnitten und es kommt hierdurch zu einer Abstraktion auf das Wesentliche.

Die wabi-sabi-Ästhetik ist eine Entwicklung des japanischen Mittelalters, am Ende des Mittelalters fand sie ihren vorläufigen Höhepunkt im japanischen Gesamtkunstwerk schlechthin, in dem die unterschiedlichen Teilkünste zu einer Symbiose vereint wurden, der wabi-Teezeremonie. Das Mittelalter war eine Zeit ständiger Bürgerkriege und damit eine Zeit höchster existenzieller Not. Es liegt auf der Hand, dass die Samurai, die tagtäglich um ihr Leben fürchten mussten und die diese Ästhetik zum Teil aktiv mitgestalteten, in diese Ästhetik existentielle Fragestellungen einbrachten. Dieser Umstand war neben der „besonderen“ Erkenntnis, die in der Meditation lebenswirklich erfahren werden konnte, eine der Gründe hierfür, warum die Zen-Ästhetik eine besondere Tiefe und Authentizität aufweist. Das Leben konnte sehr kurz sein und die Vergänglichkeit allen Seins war kein bloßer Spruch, sondern alltägliche Erfahrung. Mit Beginn der Friedenszeit, in der sogenannten Edo-Periode, änderte sich die Strenge und Kargheit dieser Ästhetik und „luxurierte“ , die Strenge wurde mit Eleganz vereint - eine neue, verspieltere und repräsentative, Ästhetik war entstanden, die Ästhetik des sogenannten kirei-sabi, oder anders ausgedrückt, eine Ästhetik der Friedenszeit.

Die wabi-sabi-Ästhetik und die westliche Moderne:

Hierzu möchte ich kurz aus einem jüngst erschienenem Buch von Vera Wolff zitieren, das die Rezeptionsgeschichte besonders auch der wabi-sabi-Kunst im Westen aufarbeitet: „ Wie es dazu kam, dass mit Ton, Holz, Tusche und Lack eine besondere, eine spezifisch japanische Ästhetik des Unvollkommenen, des Vergänglichen, Natürlichen, des Prozessualen und des Taktilen verbunden wird, die bis heute den Sehnsuchtshorizont vieler Künstler, Kritiker, Philosophen und Kunsthistoriker bildet, untersucht dieses Buch...“. Ich möchte hier eine andere Frage anschließen: „Wie kann es sein, dass eine rund vierhundert Jahre alte Ästhetik den „Sehnsuchtshorizont“ zeitgenössischer Kunst bildet, oder anders gefragt: Woran mangelt es in der zeitgenössischen Kunst? Einhellig wurde in der jüngeren Rezeption der u. a. vom Zen beeinflussten japanischen Kunst festgestellt, dass die im oben genannten Zitat wiedergegebenen Charakteristika eine Vorwegnahme der westlichen Moderne darstellen. Durch das weitgehende Festhalten an der idealistischen Ästhetik wurde diese scheinbar neue Sichtweise bis zum Beginn der Moderne im Westen jedoch weitgehend verhinderte. Aus dem oben angeführten Gründen wird klar, dass die wabi-sabi-Ästhetik das Gegenteil der idealistischen Ästhetik darstellt, in ihr kann es keine Statik, in welcher Form auch immer, geben und sie kommuniziert daher notwendig das Prozessuale in ihren Kunstwerken. Aus diesem Grund kam es auch zu zahlreichen parallelen Entwicklungen zwischen den Kunstwerken der wabi-sabi-Ästhetik und denen der westlichen Moderne. Dennoch gibt es zwischen beiden Kunstformen einen entscheidenden Unterschied: Die wabi-sabi-Ästhetik ist eine Kunst des Nicht-ichs, während die Ästhetik der Moderne eine Kunst des ichs darstellt. Das lässt sich ganz einfach mithilfe des Freiheitsbegriffs belegen. Etwas vereinfachend kann man ausführen, dass das autonome ich, in der westlichen Moderne, mithilfe einer freien Willensentscheidung, seine Kunst schafft. Der Künstler sieht sich selbst als Weltendeuter, Genie usw. und seine Kunst ist somit eine Entäußerung des autonomen ichs. In der wabi-sabi Kunst ist das substanzielle ich hingegen ein Gefängnis, das vom diskursiven Denken selbst erschaffen wird und mithilfe von Selbsterkenntnis überwunden werden muss. Erst die Transzendierung des substanziellen, d. h. beständigen, ichs, erlaubt dem nun freien Künstler seine kunstlose Kunst zu schaffen. In ihrem Buch über die Rezeptionsgeschichte der japanischen Kunst erwähnt Wolff das Problem der „westlichen“ Ästhetik, das bis heute nicht gelöst werden konnte: „ ...wie kann künstlerische Schöpfung unmittelbar werden ? Und: Wie kann es gelingen, dass das Bild selbst ein Ding bzw. der Wirklichkeit der Dinge gleich wird?“, dieses Problem ist in der wabi-sabi-Ästhetik bereits gelöst, bzw. tritt erst gar nicht auf, ist nur eine Illusion des reduktionistisch-dualistischen Denkens und mithin nur eine metaphysische Anhaftung des diskriminierenden Geists, die in dieser Form für die westliche Zivilisation charakteristisch ist. Die Tuschmalerei (sumi-e) zeigt beispielhaft wie Kunst unmittelbar und authentisch werden kann. Das Festhalten an ein autonomes ich bewirkt, die für die Postmoderne so charakteristische „Partikulierung“ der Kunst, das beziehungslose Nebeneinanderstehen der verschiedenen Weltsichten, die sich in den jeweiligen Kunstwerken äußern und die daraus resultierende Beliebigkeit der zeitgenössischen Kunst. In der wabi-sabi-Ästhetik sind hingegen Künstler, Kunstwerk und Welt, aus den oben genannten Gründen, Teil eines holistisch Ganzen, in dem nichts voneinander getrennt wird und das Ästhetische ist daher gleichbedeutend mit dem Guten und Wahren. Trotz der auffälligen Ähnlichkeiten in den Kunstwerken zwischen der westlichen zeitgenössischen Moderne und der wabi-sabi-Ästhetik scheint mir die wabi-sabi-Ästhetik gegenüber der zeitgenössischen Moderne einen entscheidenden Schritt voraus zu sein, den die zeitgenössische Moderne noch gehen muss, um wahrhaft authentisch zu werden und damit den letzten Rest von Statik (das substanzielle ich, das sich selbst im Weg steht) ablegen zu können oder anders gesagt, dem gesuchten Sehnsuchtshorizont der westlichen Kunst entspricht das transzendierte ich der wabi-sabi-Ästhetik.

Die Literaturliste folgt im zweiten Teil des Essays.

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© Jürgen Gad 2018

 

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