Theorie
des Schönen
Der Schönheitsbegriff in der klassischen japanischen
Ästhetik ist gleichbedeutend mit dem Wahren, Guten und
Schönen. Wobei das Wahre ein Ergebnis von buddhistischen
Übungen, also keine Ästhetik im westlichen Sinn,
etwa als abstrakte Reflexion über das Thema, ist. Die
ästhetischen Begriffe wie auch das Zen sind hingegen
Bezeugungen von Erfahrungen. Erst der unbedarfte Westler
macht, mangels eigener Erfahrungen, daraus eine Philosophie
im westlichen Sinn. Da das Schöne nicht vom Wahren zu
trennen ist, ist es für das Verständnis der klassischen
japanischen Ästhetik unumgänglich nach dem Wahren
zu fragen, soweit dies durch Reflexion möglich ist. Das
Wahre-Schöne ist aber nicht, wie in der westlichen Ästhetik,
etwas Normatives, sondern eine besondere Art und Weise die
Wirklichkeit wahrzunehmen. Die Wahrnehmung der Wirklichkeit
ist gewöhnlich durch die Subjekt-Objekt-Spaltung geprägt.
In dem Moment wo wir den wahrgenommenen Dingen einen Namen
geben (Artikulation) oder gar über sie nachdenken, kommt
es zur Subjekt-Objekt-Spaltung. Es handelt sich also um einen
Akt der Setzung vom Erkenntnis-Subjekt zum Erkenntnis-Objekt.
Indem das Subjekt die Objekte artikuliert und sich damit identifiziert,
bestätigt es sich wiederum selbst als Subjekt. Auf diese
Art und Weise empfindet sich das Subjekt als vom Objekt unabhängig
existierend. Dieser Vorgang entspricht unserer gewöhnlichen
Art und Weise die Dinge in der Welt und uns selbst wahrzunehmen.
Nach Ansicht der klassischen japanischen Ästhetik ist
aber die Subjekt-Objekt-Spaltung keine notwendige Bedingung
die Wirklichkeit wahrzunehmen, sondern nur eine Illusion,
die in der meditativen Gewahrwerdung der Wirklichkeit aufgehoben
werden kann. Der wahren Wirklichkeit entspricht das Nichtartikulierte-
Ganze, das im Deutschen gewöhnlich nur unzureichend als
Leere (japanisch Mu) übersetzt wird. Mu kann
mit Hilfe von bloßem Denken nicht erfasst werden, sondern
Mu ist eine Erkenntnis aus den meditativen Übungen, mit
deren Hilfe die Welt jenseits der Subjekt-Objekt-Spaltung
wahrgenommen werden kann. Schönheit im Sinn der klassischen
japanischen Ästhetik entspricht dem Nichtartikulierten-Ganzen,
es ist rein und unbefleckt vom Denken. Artikulation und Denken
sind daher eine Beschmutzung dieses höchsten ästhetischen
Wertes. Deshalb sind die hier vorgestellten philosophischen
Überlegungen nur als eine Art Fingerzeige auf die Wirklichkeit
zu verstehen, eigene Erfahrungen ersetzen sie nicht.
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Kalligraphie
von Zen-Meister Sengai Gibon - Enso. Das Kreissymbol
steht für das buddhistische Nichts, als auch für
die klassische japanische Ästhetik. (aus Wikimedia
commons)
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Die Aufgabe
der Künste ist es, da ihnen andere Mittel als bloßes
rationales Denken zur Verfügung stehen, das Nichtartikulierte-Ganze
(Mu) mit Hilfe von verschiedenen künstlerischen Medien
zu kommunizieren.
Hier kommt nun yugen als ästhetischer Schlüssel-Begriff
ins Spiel. Yugen kann als ein Gefühl der ästhetischen
Harmonie beschrieben werden. Das Erleben dieser ästhetischen
Harmonie ist gleichbedeutend mit der Aufhebung der Subjekt-Obejkt-Spaltung,
in der meditativen Gewahrwerdung von Welt. Yugen besteht aus
den beiden Silben yu und gen. Wobei yu mit Schattenhaftigkeit
und gen mit Dunkelheit übersetzt werden kann. Dieser
Begriff will also andeuten, dass das ästhetische Erkennen
nicht durch Denken, sondern nur durch eine meditative Gewahrwerdung
erreicht werden kann. Yugen ist daher auch auf die anderen
ästhetischen Schlüssel-Begriffe wie:
wabi, sabi, mono-no-aware und yohaku-no-bi anwendbar.
Ein anderer ästhetischer Schlüssel-Begriff
ist Yohaku-no-bi: Er bedeutet wörtlich die Schönheit
des übrig gebliebenen Weißen, z. B. in einem Gemälde,
die unbemalte Leinwand. Der Sinn eines Kunstwerks entsteht
nicht nur mit Hilfe des unmittelbar Dargestellten, sondern
auch durch das im Kunstwerk Nicht-Angesprochene bzw. Nicht-Gezeigte.
Im übertragenen Sinn kann auch von der Schönheit
des Einfachen bzw. Kargen gesprochen werden, die diesen Kunstwerken
zu Eigen ist.
Der Begriff mono-no-aware bedeutet: Ein besonders intensives
Empfinden für eine vergängliche Schönheit,
etwa in der Natur. Auch hier ist unmittelbar einsichtig, dass
ein Mensch, der sich jahrelangen meditativen Übungen
hingibt, zu einer gesteigerten Empfindlichkeit gegenüber
den Dingen der Natur gelangt, die einem Ungeübten
sich einfach entziehen.
Sabi, meist im Zusammenhang mit wabi genannt, sind heute auch
im Westen bekannte Begriffe der klassischen japanischen Ästhetik.
Sie können mit einer Art Lobpreisung des Unbeständigen,
der Flüchtigkeit als Urgrund allen Seins (incl. des eigenen
Seins) verstanden werden. Dingen denen Sabi zukommt,
z. B. in Form einer Patina auf verwitterten Felsen (siehe
Kapitel Gärten), werden ästhetisch geschätzt.
kire, äußert sich z. B. im berühmten Trockengarten
von Ryoan-ji durch die Mauer, die bewusst den Trockengarten
als Kunstschönes von der sie umgebenden Landschaft abschneidet,
wobei die Landschaft als Naturschönes und die Trockenlandschaft
des Gartens keine Gegensätze darstellen, sondern sich
relational bedingen. Im Haiku wird oftmals ein sogenanntes
Schneidewort (kireji) benutzt, das den Leser veranlasst die
beiden Teile des Haiku assoziativ zu verbinden. Dieses Schneidewort
wird im Deutschen meist durch einen Gedankenstrich dargestellt.
Ein berühmtes Haiku von M. Basho lautet etwa:
Sommergras
-
Von all den Ruhmesträumen
die letzte Spur ...
Während
im ursprünglichen Buddhismus die Sinneswelt negativ besetzt
ist, da sie Begierden hervorruft, die es abzutöten, bzw.
auszudorren gilt, ist dies im Zen nicht der Fall, sondern
die uns umgebende Welt der sogenannten Dinge ist positiv konnotiert.
Der Buddhismus ist in Japan eine fruchtbare Verbindung mit
dem Shinto eingegangen. Im Shinto, als animistische Naturreligion,
sind Naturdinge, wie z. B. Bäume, als Materialisation
von Göttern heilig, also positiv besetzt.
In fortgeschrittenen Stadien der Meditation kann erlebt werden,
dass die Subjekt-Objekt-Spaltung, also unsere gewöhnliche
Wahrnehmung, zusammenfällt. Meditationssubjekt und -objekt
werden dann als eine Einheit erlebt, bzw. es wird erkannt,
dass sie sich gegenseitig bedingen, bzw. erzeugen und vernichten.
Will man nun das Erlebte in Worten ausdrücken, ist festzustellen,
dass dies nur sehr unzulänglich möglich ist und
dabei kommt es zu einer Art Philosophie, die aber die erlebte
Wirklichkeit nicht adäquat wiedergeben kann. So kann
etwa gesagt werden, dass das Eine (d. h. das Ding)
nicht ohne das Ganze existiert und umgekehrt, bzw. dass sie
sich gegenseitig bedingen. Da nun aber das Eine ohne das Ganze
nicht existieren kann, ist das Eine als Manifestation des
Ganzen zu sehen, ja, es ist das Ganze. Wenn nun aber das Eine
das Ganze ist, ist im Einen das Ganze zu verehren und im Ganzen
das Eine. Wodurch klar wird, warum das Zen dem einen, oft
unscheinbaren, Ding solch eine Wertschätzung
zukommen lässt und warum hier Zen und Shinto zu einer
fruchtbaren Synthese gekommen sind. Das Wahre-Schöne
in der klassischen japanischen Ästhetik offenbart sich
also, in jedem noch so unscheinbaren Ding, aber
nur, wenn man die gewöhnliche Wahrnehmung, in dem das
Ding als unabhängig existent vom Subjekt zu existieren
scheint, transzendiert hat. Das Lebensgefühl eines Menschen
der in der klassischen japanischen Ästhetik zu diesen
Erkenntnissen gelangt ist, wird als heiter und gelassen beschrieben.
Heiter, da er die zenbuddhistische Schönheit auch in
den gewöhnlichsten Dingen der Natur erblickt
und gelassen, weil er die Wahrheit des Zen erkannt hat und
danach lebt. Leben und Kunst sind daher Eins.
M. Basho der berühmte japanische Haiku-Dichter hat das
oben gesagte wie folgt poetisch verarbeitet:
Wenn man ein Ding sagt
werden die Lippen kalt
Herbstwind
Um über die für den westlichen Leser sicher sehr
ungewöhnliche Herangehensweise an das Thema mehr zu erfahren,
sei auf die drei Bücher von T. & T. Izutsu verwiesen,
denen ich hier im wesentlichen gefolgt bin. Mein eigenes Buch:
Yohaku-no-bi - eine buddhistisch inspirierte Naturästhetik
oder die Schönheit des Einfachen.- , behandelt
das Thema ausführlich und setzt sich vor allem mit den
faszinierenden Übereinstimmungen der Wirklichkeitssicht
der klassischen japanischen Ästhetik und modernen naturphilosophischen
Vorstellungen auseinander, die sich z. T. in frappierender
Weise ähneln. Jedem der ernsthaft an der klassischen
japanischen Ästhetik interessiert ist, lege ich die gründliche
Auseinandersetzung mit der oben geschilderten Philosophie
ans Herz, die aufgrund ihrer Komplexität hier nur angedeutet
werden kann. Nach meiner Meinung hat sie eine Tiefe, die von
keiner aktuellen Ästhetik erreicht wird, da sie über
die bloße philosophische Reflexion weit hinaus geht.
Gewöhnlich ist die westliche Ästhetik unbewusst
dem dualistisch-reduktionistischen Denkansatz verfallen, der
sich z. B. in fruchtlosen Gegensatzpaaren wie: Subjektivismus
versus Objektivismus oder Realismus versus Idealismus usw.
weitgehend erschöpft hat. Wenn man die Sichtweise der
klassischen japanischen Ästhetik mithilfe von modernen
Worte ausdrückt, dann eröffnen sich z. T. völlig
neue Denkhorizonte um den Denkfallen des Westens aus dem Weg
gehen zu können.
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