Zen-Ästhetik
Charakteristika
Begriffe
Beispiele
Essay
Kontakt

>> Beispiele >> Klassische Beispiele >> Haiku

 

Haiku

Die Literaturgattung Haiku ist aus der im japanischen Mittelalter gepflegten Tradition der Kettengedichte (Waka) hervorgegangen, wobei das Waka eine Ober- und eine Unterstrophe umfasste. Das Haiku wurde geboren als man die Oberstrophe verselbständigte. Es besteht aus 17 japanischen Silben und ist in drei Zeilen zu 5/7/5 Silben aufgeteilt. Diese Tradition geht auf den berühmten japanischen Haiku-Dichter Matsuo Basho (1644-1694) zurück. Neben Basho gab es zahlreiche andere Schulen, er stellte aber das Haiku zum ersten Mal auf die Grundlage von Wabi und beschritt damit einen neuen Weg in der Dicht-Kunst. Zwar entstand die Haikudichtung erst nach dem japanischen Mittelalter, da sie aber thematisch in den hier besprochenen Zusammenhang gehört, wird sie ebenfalls kurz erörtert.
Der Inhalt des Haiku bezieht sich auf die Natur. Unverzichtbar im klassischen Sinn ist ein Bezug zur Jahreszeit, der durch ein sogenanntes Jahreszeiten-Wort, wie z. B. Herbstwind angedeutet wird. Im Haiku wird die dialektische Begegnung des Dichters mit der Natur thematisiert. Dies allein macht aber noch kein Haiku aus, sondern diese Bedingungen werden auch vom Waka erfüllt. Wobei im Waka die Natur ästhetisch elegant und verfeinert dargestellt wird, während das Haiku das Gegenteil anstrebt, es ist eher profan. Aber auch diese Beschreibung des Haiku greift zu kurz. Denn, wie bereits gesagt, hat Basho das Haiku auf der Grundlage von Wabi erschaffen, d. h. dass das Haiku durch den Filter von Mu, der buddhistischen „Leere“, gegangen ist. Unter „Leere“ ist die Erfahrung des Nichtartikulierten-Ganzen, die man z. B. durch die meditative Wahrnehmung der Natur erleben kann, zu verstehen (siehe: Theorie des Schönen). Das Kennzeichen des Haiku ist also diese „Leere“ oder um einen japanischen ästhetischen Begriff zu gebrachen: yohaku, was soviel bedeutet wie leerer oder freier Raum. Sie unterscheidet das Haiku vom Waka, dem diese „Leere“ fehlt. Basho selbst drückt diese „Leere“ poetisch unnachahmlich so aus:


Wenn man ein Ding sagt
werden die Lippen kalt -
Herbstwind


Dieses Haiku kann nach meiner Meinung wie folgt interpretiert werden: In der meditativen Gewahrwerdung der Natur erleben wir die Natur so wie sie ist, also ihre Wahrheit, oder anders ausgedrückt das Nichtartikulierte-Ganze (Mu). Subjekt und Objekt bilden dabei eine Einheit. Der Dichter muss seine subjektive Willkür abstreifen und mit der Sache eins werden, dieses Einswerden aktiviert dann spontan ein Haiku. Anders ausgedrückt: Der reine Akt der meditativen Wahrnehmung der Natur erbringt gleichzeitig den Akt des ästhetischen Erkennens. Da nun aber die Wirklichkeit nicht mit Worten sagbar ist, ohne dass dabei die Lippen kalt werden, d. h. die Welt in Subjekt und Objekt gespalten wird, verweist das Haiku auf die in der Natur, mit Hilfe der Sinne, wahrnehmbare Dynamik. Diese Dynamik steht für das nichtsagbare Mu. In der Wirklichkeitssicht der klassischen japanischen Ästhetik gibt es kein von uns unabhängig existierendes Ding mit einem eigenen Wesen (Substanz im metaphysischen Sinn), sondern die Wirklichkeit entsteht von Moment zu Moment durch die Interaktion von Subjekt und Objekt. Wirklichkeit ist daher dynamisch, einmalig und unwiederholbar. Diese Sicht der Realität spiegelt sich in der Struktur des Haiku. Zwar sind die mit Worten genannten Natur- Dinge etwas konkretes, sie dürfen aber nicht mit einem Realismus oder Pantheismus im westlichen Sinn verwechselt werden, sondern Subjekt und Objekt kommen nicht unabhängig voneinander vor, sie bedingen sich gegenseitig und erzeugen und vernichten sich, von Fall zu Fall, im Moment des Gegenwärtigen. Im Haiku bilden daher die Natur und der Dichter ein dynamisches Ganzes im Gegenwärtigen.
Eine ausführlichere Darstellung über das Haiku und seine Beziehungen zur klassischen japanischen Ästhetik findet sich als PDF-Dokument unter dem Kapitel Essay.
Für mich eröffnet das Haiku heute, genau wie damals, die Möglichkeit die Natur achtsam zu erleben, um so das eigene Leben zu bereichern und dem Leser über diese Möglichkeit der Natur ästhetisch zu begegnen erzählen zu können. Im Folgenden werden daher eigene Haiku vorgestellt, die jeweils einen vollen Jahreszyklus umfassen.

 


Datenschutzhinweis